Aufatmen in der Dunkelwolke

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  • Beitrag zuletzt geändert am:Februar 26, 2023

Diese Woche fiel meine Aufmerksamkeit auf den YouTube-Kanal des emeritierten Physik-Professors Gerd Ganteför aus Konstanz. Oder sollte ich besser sagen: Aus dem Münsterland, wo ich den Akzent seiner Aussprache verorte? Egal, in einem durch seine sympathische Ausstrahlung, unprätentiöse Art und klare Artikulation ansprechenden Video über die Grenzen des erforschten Universums erklärte er mir – nicht einmal Halbwissender in Sachen Kosmologie und Quantenmechanik – dass es uns Menschen noch sehr an einem soliden Verständnis der physikalischen Welt mangelt. Doch man sehe selbst und lasse sich nicht durch den Click-Bait GOTT? abschrecken! Seine dort geäußerte Kritik an Richard Dawkins’ Buch “Der Gotteswahn” kann ich leider nicht nachvollziehen: Dawkins wendet sich gegen Erfindungen von angeblich Übernatürlichem, nicht gegen Entdeckungen neuer Realitäten, die wir heute noch als übernatürlich bezeichnen würden. Aber das tut dem Rest des Videos und seinen Folgen keinen Abbruch. Die heutige Physik verortet er in einer Dunkelwolke, weil unsere lückenhafte Theorie über die Beschaffenheit der Welt aus dem Mangel an Aussicht auf das Ganze resultiert.

Nun ging meine Entdeckungsreise weiter: Ein Blick auf die umfängliche Liste der Video-Publikationen seines Kanals “Grenzen des Wissens” beeindruckt. Der Mann hat echt was zu sagen! An die 100 Videos von jeweils ca. 40 Minuten zu erstellen ist kein Pappenstiel. Darum wollte ich ihm auch eine Chance einräumen, mir die Lösung eines drängenden Problems zu erklären: So stoppen wir den globalen Klimawandel rechtzeitig!. Und da kam dann das Übernatürliche. Alle Klimaforscher haben die Aufnahmekapazität von CO2 der Wälder und Ozeane massiv unterschätzt, nur Gerd nicht. Anhand seines Badewannenmodells erläutert er, dass die Menschheit ihre CO2-Emissionen gar nicht auf null zurückfahren muss, sondern eine Halbierung bereits ausreichen würde, um das Klima zu stabilisieren. Wer hätte das gedacht? Soll ich das ernstlich glauben? Können wir also aufatmen? Zu schön, um wahr zu sein! Als Quelle seiner Einsicht benennt er einen Professor Wolfgang Eberhardt, der seine Hypothese in einem eigenen Video präsentiert, aber leider versäumt, sie zu belegen.

Mmmh. Was mache ich damit als Laie? Da fallen mir die Kriterien aus meiner Klimaseite zum Thema Vertrauen in mediale Produkte ein. Legen wir also gleich los und wenden sie auf die Professoren Ganteför / Eberhardt an:

Kriterium a) Ist er Klimaforscher oder hat er „nur” Physik studiert?

> Beide haben „nur” Physik studiert. 0/0 Punkte

Kriterium b) Was ist mit seiner Kompetenz? Viele Themen sind sehr komplex und man kann über sie nur nach jahrelanger intensiver und professioneller Auseinandersetzung kompetent urteilen.

> Darüber möchte ich mir vorsichtshalber kein Urteil erlauben.

Kriterium c) Womit verdient der Redner sein Geld zum Leben? Ist er in einer Position tätig, welche die Qualifikation für das Thema voraussetzt?

> Beide haben und hatten keine Position inne, welche sie für dieses Thema qualifiziert. 0/0 Punkte.

Kriterium d) Hat der Redner publiziert und wo?

> Ich habe keinen Hinweis darauf, dass einer oder gar beide in peer-reviewed Fachmagazinen der Klimawissenschaften publiziert haben und wage es zu behaupten: Sie haben nicht. Also wieder 0/0 Punkte.

Kriterium e) Hat der Redner einen Ruf zu verlieren?

> Ich vermute eher nein, denn sie sind ja beide emeritiert. Außerdem sprechen sie ja zu Themen außerhalb ihrer Fachdomäne, da ist ein Irrtum eher verzeihlich. 0/0 Punkte

Kriterium f) Ist der Redner Mitglied einer seriösen Vereinigung?

> Das kann ich nicht sagen.

Kriterium g) Welche Interessen verfolgt der Redner?

> Auch das ist schwer zu sagen.

Kriterium h) Ist der Redner isoliert in seiner Gilde?

> Das kann ich nicht sagen.

Kriterium i) Auf welche Quellen stützt sich der Redner?

> Ganteför stützt sich auf Eberhardt, dieser gibt für seine gewagte Hypothese keine Quelle an. 0/0 Punkte

Kriterium j) Welche Glaubwürdigkeit haben diese Quellen?

> Keine Quellen besitzen auch keine Glaubwürdigkeit. 0/0 Punkte

Kriterium k) (leicht angepasst) Passen die Aussagen zu dem, was ich bislang über das Thema wusste?

> Nein, sie passen nicht. 0/0 Punkte

Kriterium l) Was ist der “track record” des Redners d.h. hat er mit seinen früheren Aussagen richtig gelegen?

> Das kann ich nicht beurteilen.

Kriterium m) Kenne ich andere Personen – auch im öffentlichen Bereich – denen ich vertraue und die mir sagen, dass besagter Redner vertrauenswürdig ist?

> Nein, kenne ich nicht, obwohl ich in der Materie schon herumgekommen bin. 0/0 Punkte

Kriterium n) Falls der Redner vor einem Publikum spricht…

> Das ist nicht der Fall und darum ist dieses Kriterium nicht anwendbar.

Mein Fazit: Bei acht Kriterien hätten die Autoren nach meinem Schema punkten können. Leider haben sie keinen einzigen Punkt ergattert. Damit kann ich ihnen leider – bei dieser Hypothese – kein Vertrauen schenken.

Doch meine Kritik geht noch weiter: Entgegen dem landläufigen Verständnis von Netto-Null definiert Ganteför anders: „Netto-Null bedeutet, dass genauso viel CO2 emittiert wird von der Menschheit, wie die natürlichen Senken verarbeiten können.“ In der Wikipedia steht es (nach meinem Wissen) richtig: „Netto-null-Emission (Net-Zero-Emission) ist eine nur rechnerisch gemeinte „Nullemission“, bei der auf der einen Seite Emissionen entstehen und gleichzeitig woanders Emissionen in gleichem Maße verhindert oder dauerhaft in zusätzlich geschaffenen Senken gespeichert werden (negative Emissionen).“ Den Ausgleich können also nur zusätzlich geschaffene Senken bewirken und nicht natürlicherweise vorhandene. Weiter argumentiert er, dass sein Badewannenabfluss immer offen sei. Damit hätte sich aber der konstante CO2-Anteil in vorindustriellen Zeiten gar nicht halten können. Er hätte stetig abnehmen müssen, was aber offensichtlich nicht der Fall war! (Abgesehen davon stellt die Versauerung der Meere durch die stetige Aufnahme von CO2 ebenfalls ein Problem dar.)

Wolfgang Eberhardt macht eine geradezu peinlich einfache Rechnung auf:

Schlussfolgerung aus der „Keeling-Curve

    • (weniger als) die Hälfte der CO2-Emissionen wird in der Atmosphäre abgelagert (seit 60 Jahren gemessen)
    • Mit steigender CO2 Konzentration wächst auch die Aufnahme durch Biomasse und Ozean
    • Sobald wir die CO2 Emissionen um 50% gesenkt haben, wird die CO2 Konzentration in der Atmosphäre abnehmen –> der Klimawandel ist besiegt

Sollte den Tausenden Klimaforschern der Welt dieser einfache Zusammenhang tatsächlich verborgen geblieben sein? Nein: Wenn ein ehemaliger ordentlicher Professor mit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung, die meine bei weitem übersteigt, sich hinstellt und behauptet: Alles halb so schlimm! und KEINEN Bezug nimmt zu den vermutlich hunderten von Fachartikeln, die sich mit der Absorptionsfähigkeit von Ozeanen und Pflanzen beschäftigen, KEIN valides Modell benennt, das diesen Prozess beschreibt, dann kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Er wendet sich nicht an ein gebildetes und kritisches Publikum, sondern an leichtgläubige Menschen, die so etwas hören wollen. Aber warum tut er das? Keine Ahnung.

Trotz allem fand ich seine Videos – auch zur Klimakrise – durchaus sehenswert, weil er ein großes Spektrum an Aspekten verständlich anspricht, die vermutlich nicht jedem vertraut sind.

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Gerhard Thiemann

    Lieber Martin,
    Danke für deine Hinweise und Beiträge – hier aber auch zu ChatGPT
    Sie sind für mich sehr hilfreich mit weiter mit den dringenden und z.T. beängstigen Thematiken weiter zu beschäftigen. Ich bin ja wesentlich weniger naturwissenschaftlich, mathematisch beseelt, von daher immer dankbar für Inspiratioen.

    So long
    Gerhard

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