Wahrheit in Gefahr?

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  • Beitrag zuletzt geändert am:Juni 29, 2025

Gestern besuchte ich den Vortrag von Harald Lesch in Tübingen mit dem Titel „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“. Trotz der Hitze war der Andrang so gewaltig, dass ich auch nach halbstündigem Anstehen in der Sonne 90 Minuten vor Beginn keinen Platz in der Aula erringen konnte. Es blieb als Ersatz die Übertragung in die Hörsäle des Kupferbaus, wo die Temperatur deutlich erträglicher war. Ob es Harald gelang, zu erläutern, „wie das Zusammenspiel von Populismus, sozialen Medien und Künstlicher Intelligenz die Idee von Wahrheit, den Charakter von Debatten und die politischen Verhältnisse verändert“, mag jeder anhand dieser Aufzeichnung selbst entscheiden. Das Thema ist jedenfalls so heiß wie die aktuellen sommerlichen Temperaturen in Zeiten der Klimakrise. Ich hätte also Harald Lesch gestern zum vierten Mal live in Tübingen erlebt und das zeigt, wie angetan ich von seiner Arbeit in vielen Bereichen der Wissenschaftskommunikation bin. (Man gebe nur das Wort „Lesch“ in das Suchfeld meiner Homepage ein!)

Am selben Tag noch – welch ein Zufall – lief mir das Video mit dem Titel „Das Ende der Wahrheit – KI täuscht uns alle“ über den Weg, das ich euch allen ans Herz legen möchte – falls ihr es noch nicht kennt! Welch ein Kontrast- oder Komplementärprogramm, je nach Geschmack! Dort wird bild- und wortreich in sehr unterhaltsamer Form präsentiert, was die generative KI bereits vor einem halben Jahr so drauf hatte – und zwar verfügbar für Otto Normalverbraucher. Absolut sehenswert.

Nach meiner Rückkehr von Haralds Vortrag suchte ich nach dem von ihm zitierten, wahrhaft prophetischen Text von Hanna Arendt aus ihrem Werk „Viva Activa“ aus 1958. In den einleitenden Bemerkungen steht auf den Seiten 9/10:

Es zeigt sich nämlich, daß die „Wahrheiten“ des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, die mathematisch beweisbar und technisch demonstrierbar sind, sich auf keine Weise mehr sprachlich oder gedanklich darstellen lassen. Sobald man versucht, diese „Wahrheiten“ in Begriffe zu fassen und in einem sprechend-aussagenden Zusammenhang anschaulich zu machen, kommt ein Unsinn heraus, der „vielleicht nicht ganz so unsinnig ist wie ein ,dreieckiger Kreis‘, aber erheblich unsinniger als ein ,geflügelter Löwe“ (Erwin Schrödinger). Wir wissen noch nicht, ob dies endgültig ist. Es könnte immerhin sein, daß es für erdgebundene Wesen, die handeln, als seien sie im Weltall beheimatet, auf immer unmöglich ist, die Dinge, die sie solcherweise tun, auch zu verstehen, d. h. denkend über sie zu sprechen. Sollte sich das bewahrheiten, so würde es heißen, daß unsere Gehirnstruktur, d. h. die physisch- materielle Bedingung menschlichen Denkens, uns hindert, die Dinge, die wir tun, gedanklich nachzuvollziehen – woraus in der Tat folgen würde, daß uns gar nichts anderes übrig bleibt, als nun auch Maschinen zu ersinnen, die uns das Denken und Sprechen abnehmen. Sollte sich herausstellen, daß Erkennen und Denken nichts mehr miteinander zu tun haben, daß wir erheblich mehr erkennen und daher auch herstellen können, als wir denkend zu verstehen vermögen, so würden wir wirklich uns selbst gleichsam in die Falle gegangen sein, bzw. die Sklaven – zwar nicht, wie man gemeinhin glaubt, unserer Maschinen, aber – unseres eigenen Erkenntnisvermögens geworden sein, von allem Geist und allen guten Geistern verlassene Kreaturen, die sich hilflos jedem Apparat ausgeliefert sehen, den sie überhaupt nur herstellen können, ganz gleich wie verrückt oder wie mörderisch er sich auswirken möge.

Ich erspare mir hier eine Erläuterung dessen, was ich diesem Ausschnitt entnehme – das würde ausufern – empfehle aber der geneigten Leserin, dem Sinn in ein paar ruhigen Minuten nachzuspüren – und anschließend mit anderen darüber zu sprechen.

Wo wir gerade beim Thema Wahrheit sind, kann ich nicht umhin, auf weitere Aspekte hinzuweisen, über die nachzudenken sich sehr lohnt.

Zum einen ist das Ende der Wahrheit im Grundsatz natürlich nicht eingeläutet, gleichwohl es der Titel suggeriert. Denn es wird immer einen wesentlichen Unterschied machen, ob eine Behauptung den Tatsachen entspricht oder nicht und sei es nur in der Frage, ob ein Bild von der KI generiert wurde oder in Wahrheit eine (unbearbeitete) Fotografie ist.

Zum Zweiten ist mir bewusst geworden, dass Wahrheitsbehauptungen – egal ob sie objektiv stimmen oder nicht! – ein wesentliches Werkzeug zur Koordination sozialer Gruppen darstellen. Wenn alle Mitglieder dieselbe Wahrheit teilen, weil sie sich dieselben Geschichten erzählen, dieselben Wertungen vornehmen z.B. über Gut und Böse, und damit über das, was man tut und das, was man nicht tun darf, dann schweißt diese Wahrheit die Menschen so zusammen, dass sie besser den Herausforderungen durch die Natur oder andere Menschengruppen bestehen können. Das wäre zum Beispiel auch der Fall, wenn allen Menschen die Wahrheiten bewusst wären, dass niemand außer ihnen selbst die guten Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde erhalten kann, dass sie aber auf dem besten Weg dahin sind, an dieser Aufgabe zu scheitern.

Zum Dritten dürfen wir nicht die Psychologie außer Acht lassen, denn es kommt vielfach nicht darauf an, ob eine Aussage wahr ist oder nicht, sondern ob Menschen glauben, dass sie wahr ist. Im Politischen entscheidet dies über das Wahlverhalten und damit ist die Versuchung gegeben, das Wahlvolk durch Propaganda zu manipulieren. Aus diesem weiten Feld möchte ich nur eine Schwäche unseres Gehirns herausheben,  nämlich Behauptungen allein dadurch Glauben zu schenken, weil sie oft gehört wurden. Das wusste auch schon Joseph Goebbels und lange vor ihm die Römer, die dem Wiederholungstrick einen Namen gaben: Argumentum ad nauseam. Besonders eindrücklich und wirkungsvoll wurde diese Masche in den letzten Jahren von der Bild-Zeitung  genutzt, um Stimmung gegen E-Autos und Wärmepumpen („Heiz-Hammer“) zu machen, wie u.a. in diesem Video eindrücklich dokumentiert.

Und last not least: Die Wahrheit als Konzept steht schon lange auf der Abschussliste mancher Populisten, wie z.B. Donald Trump. Denn wenn die Wahrheit nicht mehr zählt, macht es auch keinen Sinn mehr, von Lügen zu sprechen. Sie kommen dann als alternative Fakten daher. Es darf dann jeder mit voller Berechtigung das sagen, was seiner Meinung nach die beste Wirkung auf die Massen erzielt. Letztlich zählt so nur noch, auf welcher Seite man sich in einem Konflikt befindet. Sehr schön wird diese Bedrohung der Wahrheit als wesentliches Fundament unserer sozialen Ordnung in dem Artikel Zerstörung der Wahrheit von Jonathan Rauch beschrieben, den ich gerne jeder Interessentin als PDF zuschicke.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Guido H.

    Sehr gute und tiefsinnige Beiträge. Vor allem das Video vom ORF über die Wirkung von KI auf unsere Wahrnehmung. Schaffen wir es in Zukunft noch ein Original von einer Fälschung zu unterscheiden? Es stellt sich die Frage, was passiert, wenn wir es nicht mehr können oder einfach so hinnehmen? Die Frage nach der Wahrheit steht damit in sehr engem Zusammenhang mit unserer Bildung und damit unserer inneren Einstellung und dem Willen Aussagen auch immer mit Fakten, Daten, Belegen vergleichen zu wollen. KI schafft zumindest ein Bewusstsein, sich mit dem Thema Wahrheit wieder mehr auseinanderzusetzen.

  2. Dorothee

    Hallo Martin,
    Danke fürs teilhaben lassen. War ein toller Vortrag.
    Ich habe auch an dich (als Han Solo) denken müssen der fast allein für den Umweltschutz kämpft. Die Lea Dohm kann dir da bestimmt auch helfen. Aber ich sehe du bist schon auf dem richtigen Weg mit dieser Plattform!
    Vielen Dank nochmals fürs Teilen .

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