Nicht nur Putins Gift

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Uncategorized
  • Beitrags-Kommentare:0 Kommentare
  • Beitrag zuletzt geändert am:Mai 20, 2025

Letzte Woche besuchte ich die Vorstellung des Buches Putins Gift in der Tübinger Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung. Eingeladen hatte Professor Dr. Klaus Gestwa vom hiesigen Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde die Autoren Gesine Dornblüth und Thomas Franke. Bevor es zum eigentlichen Thema kam, musste ich mir von diesen Experten ‒ nicht zum ersten Mal ‒ anhören, dass der Ukraine-Konflikt nicht Putins Krieg sei, sondern mittlerweile Russlands Krieg. Sie begründeten diese Aussage mit der Feststellung der kontinuierlichen Indoktrination und Militarisierung der russischen Gesellschaft. Mehr sei dem verstörenden Buch Jenseits von Putin vom selben Autorenteam zu entnehmen. Puh!

Schlimm, aber doch weit weg, oder? Dass mir Putins Gift einmal im Privatleben in die Quere kommt, hätte ich niemals gedacht. Wie man sich irren kann! Neulich wurde mir von einer Freundin die Website seniora.org empfohlen als eine wertvolle Quelle für das psychologischen Erbe von Alfred Adler und Friedrich Liebling. Seniora.org ist nach eigenen Angaben eine Initiative von Margot Wahl und dem Psychagogen Willy Wahl, der dieses Jahr seinen 95. Geburtstag feiert. Doch was stieß mir da neben wohlmeinenden humanistischen Texten ins Auge? Sätze wie

Merz ist der gefährlichste deutsche Führer seit Adolf Hitler 

oder, noch schlimmer:

Die Angstmacherei vorm „russischen Angriffskrieg“ ist ein fieses Ablenkmanöver von den westeuropäischen Kriegsplänen gegen Russland

Lese ich da richtig: Westeuropa hegt Kriegspläne gegen Russland? Jeder, der die politische Landschaft Europas in den letzten Jahren auch nur oberflächlich beobachtet hat, wird sagen: Absurd! Dass man hingegen vor einem russischen Angriffskrieg (ohne Anführungsstriche!) Angst haben muss, bezeugen tausende Bilder zerbombter Wohnhäuser und Millionen Ukrainer. Ich kann diese Aussage daher nur als russische Kriegspropaganda verstehen, die eine Rechtfertigung für den Überfall Russlands auf die Ukraine liefern will.

Dass ein 95-jähriger Mensch eine Website pflegt, ist angesichts des Aufwandes doch eher unwahrscheinlich und so vermutete ich den Missbrauch der Identität der Initiatoren. Darum wies ich willy.wahl@seniora.org auf die niederträchtigen und geschmacklosen Inhalte hin ‒ und bekam prompt eine gepfefferte Antwort, welche meine, Zitat: „Intoleranz“ rügte. Egal, wer nun die Fäden hinter dieser ‒ möglicherweise ‒ gekaperten Website zieht, alles wäre nicht so schlimm, fände sie nicht Anklang in den Kreisen der Klienten, die bei lebenserfahrenen Menschen wie Willy Wahl eine Lebensberatung suchen und ihnen daher ihr Vertrauen schenken. Aufgrund ihrer Biografie sind diese Ratsuchenden oft eingeschränkt in ihrer Fähigkeit, politische Propaganda als solche wahrzunehmen. Darum sind sie leichte Beute auch für Putins Gift.

Doch die Geschichte geht noch weiter: Wie man dieser Seite entnimmt, reiht sich seniora.org ein in die illustre Szene deutschsprachiger Alternativmedien, welche dem „Verschwörungsmilieu“ angehören. Das jedenfalls behaupten die Wikipedia-Artikel zu Multipolar, NachDenkSeiten, globalresearch und Ken Jebsens Apolut. Meine persönlichen Erfahrungen, die ich hier aus Gründen der Diskretion nicht ausführe, bestätigen das gängige Klischee, nachdem abseitige Inhalte besonders bei politisch schlecht informierten Menschen auf fruchtbaren Boden fallen. Mir scheint, ich hätte hier in einen Abgrund geschaut, der weit über Putins Reichweite hinausgeht, dessen Tragweite ich allerdings nicht abzuschätzen vermag. Kostprobe gefällig? Hier ist eine Bildschirmkopie aus Apolut:

Lisa Schwaiger sieht in ihrer Dissertation zu Alternativmedien mit dem Titel „Gegen die Öffentlichkeit“ (2022) durchaus „Gefahren für die soziale Ordnung“, obwohl solch eine Bewertung in einer wissenschaftlichen Analyse normalerweise keinen Platz findet. Das PDF lässt sich über den Wikipedia-Artikel zu Alternativmedien kostenlos herunterladen.

Doch was genau sind diese Gefahren? Für mich ist es das Misstrauen, welches von manchen Alternativmedien gegen alle Institutionen in unserem Staat gestreut wird, ja manchmal muss man geradezu von Hetze sprechen. Misstrauen aber ist der Gegenspieler von Vertrauen, der zentralen Säule unseres Gemeinwesens. Schwindet das Vertrauen in Regierung, Parlament, Verwaltung, Polizei, Gesundheitswesen, Wissenschaft, journalistische Medien etc. dann wird es ein Leichtes für einen Demagogen sein, die resultierenden Unsicherheiten und Ängste der Bürger als Wasser auf seine Mühlen zu leiten, und ehe wir uns versehen, landen wir wieder in einer Diktatur – oder im Chaos.

Aber wollen das die fragwürdigen Alternativen Medien eigentlich? Manche vielleicht schon, aber ich vermute, die meisten nicht. Also braucht es eine Vorstellung von deren Motivation, solch zersetzende Inhalte zu verbreiten. Ich vermute, die Autoren haben ein extremes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, damit sie und ihre Botschaft gehört werden. Und weil jeder der von ihnen angezogenen Bürger bei Umfragen oder gar Wahlen eine ganze Stimme in die Waagschale wirft, kommt so auch eine Menge politisches Gewicht zustande. Das gibt den Autoren den Kick, nach dem sie so lechzen.
Ihre Instrumente sind haltlose Unterstellungen, persönliche Verunglimpfungen, abwegige Skandalisierung, Polarisierung, Hetze und Verschwörung. Das verfängt bei frustrierten und/oder mangelhaft gebildeten Menschen, schafft ihnen vorübergehend Erleichterung: „Kein Wunder, dass ich so verunsichert und/oder erfolglos durchs Leben ziehe. In dieser kaputten Gesellschaft kann das ja auch gar nicht anders sein.“ Damit wird die Symbiose perfekt: Tausche süßes Gift gegen politisches Gewicht.

Macht dieser Text für Sie / für dich Sinn? Gerne höre ich kritische Rückmeldungen, aber natürlich auch Zustimmung und  Ergänzungen. Einfach unten kommentieren!

Übrigens: Eine Befragung des Internet-Archiv legt nahe, dass besagter Willy Wahl schon früher ein besonderes Interesse an ausgefallenen politischen Standpunkten hatte. In einem Beitrag vom April 2013 z.B. stellt er die Frage: „War der 11. September ein Inside-Job?“ (Gefunden in seniora.org am 11. Mai 2016)

Schreibe einen Kommentar