Vertrauen

oder: Wem kann man denn überhaupt noch Glauben schenken?

Manche sagen, YouTube sei das Fernsehen der jungen Generation. Vielleicht ist das übertrieben. Aber wie steht es dort mit der Glaubwürdigkeit?

Wenn ich mir Videos z.B. zu den Themen Evolution, erste Mondlandung oder Klimawandel anschaue, erlebe ich polarisierte Standpunkte. Der – angeblich – unzweifelhaften Bestätigung steht die totale Ablehnung gegenüber: „So etwas wie Evolution ist völlig unmöglich“, „Die erste Mondlandung wurde in Hollywood inszeniert“, „Die Rede vom menschengemachten Klimawandel ist Quatsch“.

Besonders verstörend wirkt auf mich die zum Teil professionelle Produktion der leugnenden Beiträge: Viele Animationen, Grafiken, Moderatoren und auftretende „Experten“ machen durchaus einen seriösen Eindruck! Ein unvoreingenommener Laie – also auch manch Jugendlicher – muss bei diesen Themen doch zur Ansicht gelangen, dass sie unter den „Experten“ höchst umstritten sind. Sie ziehen weiterhin den naheliegenden Schluss, dass man „Experten“ grundsätzlich nicht trauen sollte, weil sie sich gegenseitig so oft widersprechen. Es bleibt also in doppelter Hinsicht Desinformation zurück, und das ist womöglich so gewollt!

Was passiert da?

Natürlich kann ich hier keine vollständige Analyse liefern, aber dem Leser vielleicht helfen, in Zukunft solche Videos etwas genauer zu betrachten. Bei manchen Themen spielt es kaum eine Rolle, wie wir selbst dazu stehen. Beim Klimawandel ist das aber anders: Sollte ich mein Leben ändern, und wenn ja, wie? Als Bürger eines demokratischen Staates geht die Gewalt von uns aus. Wie fühlen wir uns, wenn wir nicht wissen, welche Partei wir bei der nächsten Wahl in unserem eigenen Interesse ankreuzen sollen? Von der notwendigen Diskussion im Familien- und Freundeskreis ganz zu schweigen! Verhalten wir uns abwartend, überlassen wir das Feld den „Lautsprechern“, die womöglich etwas ganz anderes im Auge haben als das Wohl der Menschheit.  Also kommen wir gar nicht darum herum, uns eine eigene Meinung zu bilden.

Uns ist klar, dass wir bei höchst komplexen Themen wie dem Klimawandel und dem daraus folgenden Handlungsbedarf eine umfängliche Expertise kaum erwerben können oder werden. Natürlich sind wir skeptisch und prüfen, soweit unser Urteilsvermögen reicht, alle Statements kritisch ab. Trotzdem bleiben wir angewiesen auf vertrauenswürdige Quellen d.h. die Aussagen kompetenter und ehrlicher Menschen. Aber wie erkennen wir die?
Fangen wir an mit einer einfachen Unterscheidung zur Beurteilung von Aussagen in Anlehnung an [1, 11:55]. Aussagen können

  • ehrlich (truthful)
  • wahr (true)
  • relevant (representative of reality)

sein, mit der Möglichkeit, dass keine, alle, oder nur einige dieser Eigenschaften zutreffen. Wenn z.B. ein Professor Köhler behauptet [2], die Grenzwerte für Stickoxide in der Luft seien zu niedrig angesetzt, so unterstelle ich ihm Ehrlichkeit (Eigenschaft 1). Ist seine Aussage aber auch wahr in dem Sinne, dass es keine belastbaren Erkenntnisse für diese Grenzwerte gibt? Da hege ich meine Zweifel, denn es haben sich eine Menge Profis international auf diese Werte verständigt. Vermutlich sind seine Aussagen also nicht wahr. Keinesfalls kann man seinen Aussagen die Relevanz absprechen. Aus den Grenzwerten ergeben sich ja genau die Fahrverbote mit erheblichen wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.

Natürlich ist dies eine etwas verkürzte Darstellung der Sachlage, aber zur Illustration gut geeignet: Ich muss keinen Redner der Lüge bezichtigen, wenn ich seine Aussage für falsch halte. Die Lüge bezeichnet ja die unehrliche Aussage, nicht eine unwissentliche Falschaussage!

Ein schönes Bespiel für den Fall, dass vorgebrachte Argumente ehrlich, wahr, aber eben nicht relevant sind, liefert das Interview mit Patrick Moore [3]. Er behauptet, dass in 1,8 Millionen Jahren von heute das in der Atmosphäre befindliche CO2 soweit aufgebraucht und pflanzliches Leben somit unmöglich geworden wäre – wenn nicht die Menschheit rechtzeitig die fossilen Energieträger in solchem Umfang verbrannt hätten, dass die Pflanzen wieder „aufatmen“ können. Patrick Moore stellt keinen Überschuss an CO2 fest sondern eher ein Mangel! Wie kann das sein? Ich halte seine Aussagen für ehrlich und möglicherweise auch für wahr – in dem gegebenen Problemhorizont.
Problematisch wird seine Aussage im Kontext der Diskussion um den Klimawandel. Dort spielt das atmosphärische CO2 eine entscheidende Rolle als Verursacher globaler Erwärmung. Bezüglich der Frage, ob die gestiegenen CO2-Werte bedrohlich sind für die menschliche Zivilisation, ist Patrick Moore’s Aussage also irrelevant.

Als erstes Zwischenergebnis halten wir fest: Bei der Begegnung mit einer fragwürdigen Behauptung sollten wir uns darüber klar werden, welche der genannten Eigenschaften „ehrlich“, „wahr“ und „relevant“ wir der Aussage zuschreiben, um danach ggf. tiefer zu bohren.

Als nächstes sollten wir die Redner etwas unter die Lupe nehmen:

a) Wie steht es um die Qualifikation des Redners? Ist er Klimaforscher oder hat er „nur“ Physik studiert? Wurde der Doktor in Atmosphärenphysik promoviert oder in Medizin? Hier erlebe ich in manchen Videos, dass sich Redner durch die Erläuterung elementarer wissenschaftlicher Erkenntnisse einen seriösen Anstrich geben wollen, der bei Laien leicht verfängt.

b) Was ist mit seiner Kompetenz? Viele Themen sind sehr komplex und man kann über sie nur nach jahrelanger intensiver und professioneller Auseinandersetzung kompetent urteilen. Der Klimawandel gehört sicherlich mit zu diesen Themen. Eine gute Ausbildung alleine reicht oft nicht hin. Manchmal erscheint es mir, dass gebildete Menschen die Reichweite ihrer Kompetenz überschätzen, obwohl sie doch aus eigener Erfahrung wissen müssten, wie viel Arbeit es erfordert, sich in einem vielschichtigem Thema wirklich gut auszukennen.

c) Womit verdient der Redner sein Geld zum Leben? Ist er in einer Position tätig, welche die Qualifikation für das Thema voraussetzt? Das wäre ideal. Oder hat seine berufliche Tätigkeit nur am Rande (wenn überhaupt) mit dem Thema zu tun?

d) Hat der Redner publiziert und wo? Schreibt er Bücher (möglicherweise nur populärwissenschaftliche) oder publiziert er auch in anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften, bei denen jeder Artikel vor der Veröffentlichung durch Kollegen vergleichbarer Qualifikation intensiv geprüft wird (peer review)?

e) Hat der Redner einen Ruf zu verlieren? Je leichter man einem Redner eine Schieflage verzeihen würde, umso weniger Vertrauen wird man in seine Aussage setzen. Viele Redner leben – nicht nur beruflich – von ihrer Seriosität. Sie werden es stets genau überlegen, wem oder welcher Aussage sie ihre Stimme geben!

f) Ist der Redner Mitglied einer seriösen Vereinigung? Der Professor einer deutschen Universität z.B. steht unter einer deutlich strengeren Beobachtung als ein Forscher an einem kleinen Institut, dessen Finanzierung womöglich unklar bleibt. Fragwürdige Stellungnahmen eines ordentlichen Professors werden nicht ohne Folgen bleiben und auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Da muss man also nachforschen.

g) Welche Interessen verfolgt der Redner? Das ist nicht immer leicht zu sagen. Vielleicht will er eher sich bereichern (durch meine Gefolgschaft) als mich (durch echten Erkenntnisgewinn). Kann es sein, dass er gesponsert wird von Organisationen, die ein wirtschaftliches oder ideologisches Interesse an der Bestätigung oder Widerlegung bestimmter Aussagen oder Ansichten haben? Man forsche z.B. einmal über das Engagement der amerikanischen Tabakindustrie zur Beschwichtigung der Sorgen bezüglich der Schädlichkeit von Tabakkonsum: „Von 1950 an baute die Tabakindustrie ein Netzwerk von Forschungsinstitutionen und Wissenschaftlern auf, die finanziell von ihr abhängig waren. Im Gegenzug verschleierten und manipulierten diese Wissenschaftler jahrzehntelang Erkenntnisse über die Gefährlichkeit des Rauchens und lieferten zahlreiche tendenziöse Gegenstudien, die das Rauchen als harmlos darstellten.“ [4]

h) Ist der Redner isoliert in seiner Gilde? Soll heißen, ist er der einzige von vielen Kollegen, der eine abweichende Meinung darstellt? Falls ja, sollte man umso mehr auch die andere Seite hören! Im Gegenzug wird eine Darstellung nicht automatisch dadurch richtig, dass viele sie wiederholen. Womöglich von Rednern, die alle derselben „Schule“ entstammen. Hier kann helfen, auch einmal über die Landesgrenzen hinauszuschauen.

i) Auf welche Quellen stützt sich der Redner? Nicht jeder Redner, der etwas sinnvolles präsentiert, muss auch ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet sein. Aber er muss darlegen, woher er denn seine Aussagen bezieht und warum er oder sie glaubt, dass sie begründet sind. Die Befolgung dieser Regel war m.E. essentieller Bestandteil des Erfolges von Rezo [5].

j) Welche Glaubwürdigkeit haben diese Quellen? Nun, hier folgen wir der Einsicht, dass Quellen entweder auf direkten Beobachtungen beruhen oder Aussagen von Autoren sind, die sich eine Meinung über die Sachlage gebildet haben. Also muss man dort weiter bohren. Beobachtungen bzw. Messungen werden aber immer von Menschen durchgeführt; dieselben oder andere Menschen berichten und deuten die Ergebnisse. Auch in diesem Prozess kann viel oder gar alles schief gehen; eine Darstellung dieser Problematik würde allerdings hier den Rahmen sprengen.

k) Sind die Aussagen der Redner in sich und untereinander schlüssig (logisch widerspruchsfrei) bzw. passen sie zu dem, was ich bislang über das Thema wusste? Hier sollte man genau hinschauen und skeptisch nachfragen, falls etwas unlogisch erscheint.

l) Was ist der „track record“ des Redners d.h. hat er mit seinen früheren Aussagen richtig gelegen? Wenn ich einen Autor schon über viele Jahre kenne und ich bislang keine negative Kritiken von Belang vernommen habe, ist dies ein Hinweis, dass er auch diesmal nicht daneben liegt.

m) Kenne ich andere Personen – auch im öffentlichen Bereich – denen ich vertraue und die mir sagen, dass besagter Redner vertrauenswürdig ist? Dann könnte sich dadurch ein indirektes Vertrauen ergeben. Auch das Gegenteil ist wirksam: Äußert eine Person meines Vertrauens gut begründete Kritik am Redner, sollte mich dies bedenklich stimmen.

Weiterhin können folgende Fragen Einsichten vermitteln:

n) Falls der Redner vor einem Publikum spricht: Hören dort Laien zu oder ebenbürtige Fachleute? Gibt es kritische Reaktionen auf die Ausführungen, z.B. gegen Ende der Veranstaltung? Falls nur erkennbar fachfremde Menschen der Rede lauschen und keinerlei kritische Fragen stellen, stärkt dies nicht die Glaubwürdigkeit des Vortrags, auch wenn dieses Gefühl vermittelt werden sollte.

Mancher Leser wird es gemäß der Devise tl;dr [6] nicht bis hier hin geschafft haben, dabei möchte ich noch eine weiteren Baustein präsentieren, nämlich „Die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft“ [7]. Der Autor schlägt dort sieben Prinzipien vor, an denen man seine eigenen Werke orientieren und entlang derer man andere Publikationen untersuchen kann. Fünf der sieben möchte ich kurz vorstellen:

  • Wahrheitsorientierung: Bemühe dich, die Dinge so zu beschreiben, wie sie sind, ohne eigenes Zutun oder Weglassen, sei es absichtlich oder unabsichtlich! (Oder aber stelle vorab klar, dass du hier vor allem deine Meinung verkünden bzw. lediglich unterhalten willst!)
  • Skepsis: Versuche unvoreingenommen an die Dinge heranzugehen und nicht vorschnell zu urteilen!
  • Verständigungs- und Diskursorientierung: Zeige Bereitschaft für kritisches Nachfragen und eine sachliche Diskussion! Deine Sicht der Dinge ist womöglich nicht die einzig angemessene. Hilf mit, dass alle Interessenten sich eine begründete Meinung aus den verschiedenen Angeboten bilden können.
  • Relevanz und Proportionalität: Versetze dich in die Lage des Lesers: Ist das, was du schreibst, für ihn oder sie von Bedeutung bzw. so besonders wichtig? Wenn ja, begründe das; wenn nein, schlage leisere Töne an!
  • Transparenz: Zeige, wie du vorgegangen bist; welche Quellen, Werkzeuge und andere Hilfsmittel du benutzt hast. So kann (idealerweise) jeder deine Arbeit nachvollziehen und zum selben Ergebnis gelangen. Und falls nicht, sollte leichter erkennbar sein, warum nicht.

Wen all dies Appetit auf Mehr gemacht hat, der studiere doch einmal, was die Wikipedia unter dem Stichwort „Wissenschaft“ oder einem der oben genannten, angeblich strittigen Themen zu sagen hat.

Nachwort
Vertrauen ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält.  Darum halte ich es für wichtig, dass wir alle der Erosion von Vertrauen in unserer Gesellschaft [1] entgegen wirken, insbesondere zugunsten der Jugend. Das hat nicht nur mit der Medienlandschaft zu tun, aber auch. Und es gibt Tausend Wege, hier seinen Beitrag zu leisten.

Quellen
[1] Daniel Schmachtenberger bei YouTube  
[2] Dieter Köhler / SWR bei YouTube   
[3] Patrick Moore bei YouTube
[4] Thilo Grüning im Stern
[5] Rezo ja lol ey: „Die Zerstörung der CDU“ bei YouTube
[6] tl;dr in Wikipedia  
[7] Bernhard Pörksen: „Die große Gereiztheit“, Carl Hanser Verlag 2018